«Ich weiss es nicht»

«Ich weiss es nicht» ist eine unangenehme Antwort. Sie klemmt Gespräche ab und schürt die Angst, als Idiot dazustehen. Aber es ist oft die richtige Antwort in einer komplexen Welt.

Wir sagen ja nicht gern «ich weiss es nicht». Wurde uns in der Schule so eingetrichtert. «Wann war jetzt die Revolution in Frankreich, Lorenz?», da sagt man ja nicht: «Ich weiss es nicht». Da wartet man, bis die Kollegin von nebenan sich wiedermal erbarmt und die Antwort ins Ohr flüstert: «1789», «1789, Herr Michel!».

Leider falsch

Praktisch ist ja, dass wir unterdessen keine wohlgesinnte, gut informierte Schulkollegin benötigen, die uns aus der Patsche des Nichtwissens hilft. Wir haben: Google, Wikipedia, Youtube, Podcasts, TED-Talks. Wir sind wirklich verdammt gut informiert.

Was wir vor lauter Informiertsein vergessen: wir wissen trotzdem ziemlich wenig.

Die Welt ist unfassbar komplex, vielschichtig und unvorhersehbar. (Das musste ein Freund von mir erfahren, der am 19. Februar 2022 in einem Chat schrieb: «Putin wird nicht einmarschieren.»).

Dermassen verworren kann unsere Welt sein, dass nicht mal diejenigen den Durchblick haben, die ihn haben sollten: Expert:innen schneiden kaum besser ab als informierte Laien, wenn sie die Wahrscheinlichkeit des Eintretens politischer Szenarien nennen müssen; Investmentbanker:innen geben mit dem Kauf von Aktien mehr Geld aus als sie mit dem Verkauf einnehmen (minus 2.2 Prozentpunkte).

Und hier geht es um Leute, die per Job Description den Durchblick haben sollten.

Diese Komplexität versetzt uns aber nicht in Ehrfurcht, im Gegenteil: Wir lesen ein paar Zeitungsartikel, schauen ein paar Youtube-Videos und schon denken wir, wir verstünden Künstliche Intelligenz, die globale Verbreitung eines Virus oder das Wahlverhalten von US-Bürger:innen. Das Resultat? Tonnenweise Bullshit: Wichtiges Gerede, das aber inhaltlich leer ist und keiner gründlichen Prüfung standhalten würde.

Laut dem Philosophen Harry Frankfurt entsteht Bullshit unvermeidlich dann, wenn Menschen gezwungen seien oder auch nur Gelegenheit erhielten, über Dinge zu sprechen, von denen sie nicht genug verstehen. Und Bullshitting scheint gerade hoch im Kurs zu sein, schliesslich hat es prominente Vertreter wie Donald Trump, Elon Musk und Barack Obama.

Kein Wunder, bildet Bullshitting Metastasen im Alltag: in Bars, Kommentar-Threads und Sitzungszimmern.

Selbstsichere Idioten

Die grössten Bullshitter:innen sind meistens diejenigen, die bei einem Thema bestimmt und selbstsicher – ja arrogant – auftreten. Denn obwohl sie falsch liegen, sind sie von der Wahrheit ihrer Aussagen felsenfest überzeugt: «… in many cases, incompetence does not leave people (…) cautious. Instead, the incompetent are often blessed with an inappropriate confidence (…)», schreibt der Sozialpsychologe David Dunning 2017 im Essay «We Are All Confident Idiots». Wir seien grottenschlecht darin, das Ausmass unserer eigenen Unkenntnis festzustellen. Studien zeigen: Studierende mit schlechten Noten erwarten in der Regel bessere Resultate, Schachspieler:innen denken, sie beherrschten das Spiel besser und ältere Autofahrer:innen überschätzen ihre Fähigkeiten am Lenkrad. Uns mangelt es also an Wissen oder Können – und wir peilen’s nicht mal! Dieses Phänomen wurde bekannt unter dem Namen Dunning-Kruger-Effekt.

Schlechte News gibt’s für Leute, die sich als geistig überlegen betrachten und andere gerne als «dumm» und «inkompetent» bezeichnen: «Because it’s so easy to judge the idiocy of others, it may be sorely tempting to think this doesn’t apply to you. But the problem of unrecognized ignorance is one that visits us all.», schreibt Dunning. Somit widerlegt er auch den weit verbreiteten Irrglauben, dass sich der Dunning-Kruger-Effekt nur auf Menschen mit geringem IQ bezieht.

Nicht dein Fehler: die Welt ist kompliziert

Das Verhältnis zwischen unserem Wissen und der Komplexität der Welt ist ähnlich wie das Verhältnis zwischen unserer Erde und dem Universum: Unser Wissen hat die Dimension eines Mückenschisses. Einen Podcast über ein bestimmtes Thema zu hören, ein Youtube-Video darüber zu schauen oder einen NZZ-Artikel darüber zu lesen, ist ein lobenswerter erster Schritt in Richtung Erkenntnis – aber eben nicht mehr. Im Anschluss die Gewissheit zu haben, man verstünde die Materie, ist ignorant.

Versteh mich nicht falsch: Niemand muss zuerst eine Doktorarbeit über ein Thema geschrieben haben, um es beim Nachtessen zu diskutieren. Genauso gehören Spekulationen, Beobachtungen, Meinungen und Einschätzungen zu einer gelungenen Unterhaltung. Was mir in vielen Gesprächen (beruflich und privat) fehlt, ist die Demut vor der Komplexität unserer Welt – im Gegensatz zur übermässigen Bereitschaft zum Bullshitten.

«Ich weiss es nicht» ist eine unangenehme Antwort. Sie klemmt Gespräche ab und schürt die Angst, als Idiot dazustehen. Aber es ist oft die richtige Antwort. Treffend formuliert es der Essayist James Russell Lowell: «Blessed are the ones who have nothing to say and who cannot be persuaded to say it.»

Angst davor zu haben, mit der Aussage «ich weiss es nicht» als dumm zu gelten, musst du übrigens auch nicht: der Autor William Feather schrieb, gebildet zu sein, bedeute «fähig zu sein, zu unterscheiden, was man wisse und was man nicht wisse».

Danke für’s Gegenlesen, Jacqueline Büchi <3; Fotos vom Korsikastreifzug mit Georges

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