Wie uns Erzählungen beeinflussen

Geschichten sind mehr als Netflix, Aschenputtel oder halbwahre Lebensepisoden in der Bierrunde. Neben ihrem Unterhaltungswert sichern sie unser nacktes Überleben und manipulieren uns sogar. True Story!

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Es war einmal … Jeff Bezos. Der E-Commerce-König und reichste Mensch des westlichen Sonnensystems mochte Powerpoint nicht. Kurzerhand verbannte er deswegen Präsentationen aus den Amazon-Meetings. Vorbei ist die Zeit, in der sich seine Manager*innen durch Slides mit Daten und Bulletpoints klickten – sie erzählen jetzt Geschichten.

Ja, das klingt vorerst nach Exzentrik, wie nur ein Milliardär sie haben kann – aber es hat Hand und Fuss. Denn um Informationen erfolgreich zu vermitteln, braucht der Mensch keine zusammenhanglosen Daten – er braucht Narrative.

Mehr als «König der Löwen» oder «Willhelm Tell»

Auch ausserhalb von Bezos-Land mit seinen erzählenden Manager*innen finden wir Narrative – oder allgemeiner ausgedrückt – Geschichten. Wir hören sie im Sitzungszimmer, auf dem Sofa, während der Corona-Pressekonferenz, im Tram, auf Unternehmenswebseiten oder bei Abstimmungskampagnen. Dabei nehmen Geschichten ganz unterschiedliche Formen an. Sie treten auf als Alltagserlebnisse, Firmenentstehungen, Nationengründungen, Legenden, Gerüchte, Romane oder Einzelschicksale.

Anders gesagt: Storys hören nicht bei Wilhelm Tell und schon gar nicht bei König der Löwen auf. Sie sind überall.

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Um zu verstehen, wieso Geschichten so omnipräsent sind, müssen wir zuerst klären, was sie genau ausmacht. Geschichten verknüpfen Ereignisse und Handlungen (entweder real oder fiktiv) kausal und spannen diese entlang einer Zeitleiste auf (auf Ereignis eins folgt Ereignis zwei, welches von Akteur x verursacht wurde und so weiter). Dadurch schaffen sie, erstens, Schlüssigkeit und reduzieren, zweitens, die Willkürlichkeit und Komplexität in unserem Leben. Diese beiden Eigenschaften von Geschichten haben es in sich: Wir hören ihr deswegen aufmerksamer zu, merken sie uns besser und geben sie lieber weiter als andere Formen der Informationsvermittlung. Ich meine, wer mag schon Komplexität!

Gleichzeitig offenbaren sich hier aber auch zwei Schattenseiten von Geschichten:

  • Sie machen uns anfälliger auf Falschinformationen. Je plausibler und schlüssiger sie uns erscheinen und je eher das Resultat (oder die «Moral der Geschichte») unserer Einstellung entspricht, desto mehr glauben wir sie auch.

  • Ihre komplexitätsreduzierende Eigenschaft stellt unsere Welt oft zu vereinfacht dar.

Das ist umso problematischer, wenn wir bedenken, dass sie seit jeher zentraler Bestandteil unseres Zusammenlebens. Aber dazu später mehr.

Um die Macht der Geschichten zu verstehen, lohnt es sich, ein Organ genauer anschauen: unser Gehirn. Wie oben angetönt, ist dieses nämlich auf Storys programmiert.

Ein Blick ins Gehirn

Schauen wir also mal in unsere Steuerzentrale rein. Das Gehirn kann – sehr einfach gesagt – auf zwei verschiedene Arten Informationen verarbeiten: analytisch und emotional.

Die analytische Verarbeitung von Informationen findet in denjenigen Arealen unseres Gehirns statt, in denen die Sprache verarbeitet wird. Diese heissen Broca-Areal und  Wernicke-Zentrum.

In diesen Bereichen wandelt dein Gehirn Worte, die du hörst oder liest, in Bedeutung um. Diese Art der Informationsvermittlung ist, nun ja, etwas trocken.

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Powerpoint-Präsentation versus Ziggipause

Zur Veranschaulichung dieser Form der Informationsvermittlung greifen wir nochmals auf die Bezos so verhassten Powerpoint-Slides zurück. Wir gehen allerdings davon aus, dass sie in deiner Firma immer noch Verwendung finden. Die 22. Slide deiner letzten Präsi beinhaltet vielleicht folgende drei Informationen in Form von Bulletpoints:

  • Erhöhte Reichweite dank neuer Influencer-Massnahme auf Tiktok: 20%.

  • Anzahl Neukunden: 1

  • Betrag ausgegeben für die Neukund*innen: CHF 10’000.

Deine Chefin liest die drei Bulletpoints, analysiert die Zahlen, folgert, dass du das Marketing-Budget für die nächsten zwei Jahre bereits ausgegeben hast und sagt: «Wir müssen reden».

Party im Gehirn

Anders verhält sich unser Gehirn, wenn es Geschichten verarbeitet. Neben dem Broca-Areal und dem Wernicke-Zentrum kommt hier unter anderem auch der somatosensorische Cortex zum Einsatz: Er ist für dein Empfinden zuständig, mit ihm fühlst und riechst du.

Beispiel: In der Zigaretten-Pause erzählst du deinen Kolleg*innen von deinem missglückten Tinder-Date vom letzten Freitag – also eine Story.

Dank des somatosensorischen Cortex können deine Zuhörer*innen alle Ereignisse, von denen du erzählst, miterleben: Sie können den Geruch geradezu riechen, wenn du vom Parfum deines Tinder-Dates sprichst. Auch der Motor Cortex, der für die Bewegung zuständig ist, kann durch eine Geschichte stimuliert werden. Zum Beispiel, wenn du erzählst, wie du eine halbe Stunde lang vor der Bar hin und her geirrt bist, weil sie gesagt hatte, sie ginge nur schnell Zigaretten holen und nie mehr zurückkam.

Anders gesagt: Unser Gehirn wird beim Lauschen einer Anekdote viel umfassender stimuliert als bei der Vermittlung nackter Daten: Es feiert eine Party und fast alle Areale tanzen mit.

Diese Aktivierung hat einen fast schon magischen Effekt: Wir können uns emotional in die Protagonist*innen der Geschichte hineinversetzen.

Die Informationsvermittlung via Story unterscheidet sich dadurch fundamental von der Informationsvermittlung via Powerpoint-Präsentation.

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«Und wenn sie nicht gestorben sind, dann...»: Kein Überleben ohne Geschichten

Die zweite Eigenschaft von Geschichten, die sie so zentral in unserem Leben machen, hat mit nichts weniger zu tun als unserer Evolution als Spezies.

Wie oben erwähnt, verknüpfen Geschichten Begebenheiten kausal. Das Ergebnis dieser Verknüpfung kann erwünscht oder unerwünscht sein. Hier zwei simple Beispiele:

  • Ich weiss, dass ich arbeiten muss, denn so kann ich mir eine unabhängige Existenz ermöglichen – Happy End.

  • Ich weiss, dass ich nicht bei Rot über die Strasse laufen soll, wenn sich ein Auto nähert, da es mich sonst überfährt – kein Happy End.

Als menschliche Spezies können wir aber nicht nur unterscheiden zwischen erwünschten Resultaten (überleben und prosperieren) und unerwünschten Resultaten (sterben). Wir können – und das ist der Clou – anderen Menschen diese kausalen Verknüpfungen von Ereignissen vermitteln. Um beim zweiten Beispiel von oben zu bleiben. Ich muss nicht am eigenen Leib erfahren, wie es ist, von einem Auto überfahren zu werden. Ich weiss das, weil mir meine Eltern immer gesagt haben: Das Ereignis eines heranfahrenden Autos und das Ereignis vom kleinen Lorenz, der über die Strasse läuft, resultiert mindestens in einen heranbrausenden Krankenwagen mit Blaulicht.

Geschichte ist König und Diktator

Fassen wir zusammen: Unsere Fähigkeit des Geschichten-Erzählens ist uns super hilfreich. Sie hilft uns zu überleben, Informationen besser zu verarbeiten oder unsere Kolleg*innen besser zu unterhalten. Aber da ist noch mehr: Geschichten sind auch dafür verantwortlich, dass wir Menschen den Erdball dominieren. Aber auch, dass sich Unwahrheiten verbreiten und Massenmanipulation möglich ist.

Fortsetzung folgt.

Die ziemlich willkürlich ausgewählte Foto-Reihe stammt von einer Tessin-Reise aus dem Jahr 2018

Das Titelbild ist von http://www.brainfeedersite.com/2010/04/09/strangeloops-2010-on-the-bbc/

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