Was ist mit dem Underground los?

Die Grenze zwischen Underground- und Mainstream-Musik verschwimmt. Die Musikwelt erscheint wie ein Tauschladen, in dem alles möglich. Weder ursprünglicher Kontext noch Intention der Urheber:innen spielen eine Rolle. Wie kommt es dazu?

In dunkeln Techno-Kellern werden Remixe von Mainstream-Hits gespielt, von «Temperature» (Sean Paul) über «California Dreamin’» (The Mamas & The Papas) bis hin zu «I'm Outta Love» (Anastacia),  Pop-Ikone Kylie Minogue tritt im Berghain auf, einem ehemaligen Fetisch-Club, dessen Name zwar auch Szenefremden bekannt ist, der sich aber der Öffentlichkeit konsequent verwehrt und einen Grossteil der Besucher:innen abweist (inklusive des Autors). Und dann wäre da noch der Superstar Rihanna, der vor einiger Zeit vor Visuals auftrat, die dem nischigen Internet-Genre Seapunk entstammen.

Die Musikwelt erscheint wie ein Tauschladen, in dem alles möglich ist und in dem weder der ursprüngliche Kontext noch die Intention der Urheber:innen eine Rolle spielen. 

Wie kommt es zu dieser Vermischung?

Zugegeben: Trennscharf war der Unterschied zwischen Musik für die Mass und Musik für die Nische wohl nie. Aber die beiden Gegensätze scheinen sich heute geradezu in den Armen zu liegen, der Underground scheint seine Berührungsängste vor Massenmusik abgelegt zu haben.

Das ist merkwürdig, bedenkt man, dass Underground sich, erstens,  als Gegensatz zum Mainstream versteht, sich, zweitens, ideologisch abgrenzen will von einem vorherrschenden System und, drittens, per se etwas ist, das – wie der Name sagt – sich eben unter der Oberfläche befindet. In Zusammenhang mit letzterer Definition meinte Frank Zappa ja auch: «Mainstream comes to you, but you have to go to the underground». Anders gesagt: Massenmusik ist dort, wo die Massen sind (kommerzielle Radiosender, Einkaufszentren, Fussballstadien), Underground ist dort, wo die wenigen sind.

Nun, Frank Zappa ist seit 30 Jahren tot, das Zeitalter der Digitalisierung hat er nicht erlebt. Greift seine Definition auch 2024 noch? Hat das Netz den Underground nicht an die Oberfläche gespült?

Raus dem Schattendasein? Underground und das Internet

Blick zurück: Prä-Internet war es schwierig, Musik zu finden, die nicht von Labels beworben, von Radios gespielt und in Plattenläden verkauft wurde, Musiker:innen ohne Plattenvertrag existierten ausserhalb des Mainstreams - ob sie wollten oder nicht.

Das änderte sich mit dem Internet der Nullerjahre: MP3-Blogs, File-Sharing-Websites und Social-Media-Plattformen wie MySpace gingen live und stillten den Hunger von Musikfans weltweit. Der Weg ins Plattengeschäft blieb plötzlich erspart, Songs waren nur noch einen Klick entfernt – und das meist kostenlos, weil illegal zur Verfügung gestellt.
Die Zugänglichkeit von Musik erreichte eine nie zuvor gesehene Dimension – und wurde von da an nur noch einfacher: Streaming-Angebote wie Spotify und Apps wie Tiktok sind gewissermassen Song-Sharing auf Speed.

Digitalisierung sei Dank, konnten Musiker:innen nun ihre Songs mit günstiger Software in den eigenen vier Wänden produzieren (siehe The Streets) und über das Netz verbreiten. Die Folge: Bisherige Torwächter wie Labels und Radiostationen wurden zumindest ein Stück weit überflüssig, Musiker:innen mit Potenzial und Wille konnten jetzt auch unabhängig lossingen, -rappen oder produzieren und ihr Mainstream-Glück versuchen (und fanden das auch, wie bspw. Produzent Calvin Harris und Sängerin Adèle bewiesen). Gleichzeitig wurden bisher obskure Gattungen wie etwa Grime durch Youtube-Videos, Tweets und Facebook-Posts einem Publikum präsentiert, das nie zuvor von ihnen gehört hatte.

Hat das Internet den Underground aus der Schattenwelt geholt? Einfach deshalb, weil es kaum noch Informationsschnipsel gibt, die nicht von Google indexiert sind und kaum noch Songs, die nicht auf YouTube hochgeladen werden? Bejahen tut das Kulturkritiker Simon Reynolds. Er postuliert: «The web has extinguished the idea of a true underground; it’s too easy for anybody to find anything now».

Underground in einer marktdominierten Welt

Underground, das ist allerdings mehr als Schattenwelt. Laut Musikethnologe Kai Fikentscher besitzt er auch eine ideologische Komponente. Underground sei: «… ein Kontext, in dem bestimmte Aktivitäten (…) stattfinden, die Opposition, Subversion oder Abgrenzung zu einem grösseren, dominanten, normativen, möglicherweise unterdrückerischen Umfeld ermöglichen». So galt zum Beispiel Hip Hop in seinen Anfängen als subversives Genre, dessen Vertreter:innen am Rande der Gesellschaft gegen das System lärmten.

Fünfzig Jahre nach der Party von Kool Dj Herc in einem Jugendzentrum in der South Bronx – dem Urknall der Bewegung – sind die gesellschaftlichen Schockwellen, die das Genre auslöste, abgeebbt, bei den Puristen herrscht Katerstimmung. Hip Hop blähte sich von einem Nischenphänomen Ende der 70er zu einer globalen Milliardenindustrie auf, eine Entwicklung, die laut Kritiker:innen den Kern dieser Kultur zerstört hat: Was als Subversion begonnen hatte, beugte sich dem kapitalistischen System.

Hip Hop ist kein Einzelfall. Auch House startete als emanzipatorische Bewegung: Abseits der Öffentlichkeit ertanzten sich Schwule und Schwarze in New York und Chicago zu stampfenden Beats ihre eigene Welt und bildeten so eine eskapistische Trennmauer gegen den unterdrückenden, dominierenden Zeitgeist. Tempi passati: Es gibt nicht nur Fälle von etablierten Houseproduzenten, die homophobische Aussagen posten, durch Pop-Songs, Haute Couture und gigantische Festivals schlitterte das Genre immer mehr in die breite Öffentlichkeit – und ins Visier der Finanzindustrie.

Die Einverleibung liege weniger an der bereitwilligen Kooperationsbereitschaft der Akteur:innen, schreibt Stuart Jeffries in seinem Buch «Everything, All the Time, Everywhere - How We Became Postmodern». Vielmehr lebten wir in einer Welt der kapitalistischen Aneignung, in der alles zu haben und zum richtigen Preis zu verkaufen sei – ausserhalb des Marktes gebe es nichts mehr, ist Jeffries überzeugt.

Social-Media- und Video-Sharing-Dienste sind Musterknaben der kapitalistischen Aneignung: Ob konform oder kritisch, bestätigend oder polemisch, alt oder neu, Mainstream oder Underground, ihnen ist schnuppe, was gepostet wird, Hauptsache, die Nutzer:innen-Zahlen stimmen. Mit der Werbung, die sie dadurch ausspielen können, machen sie Milliarden.

Wir müssen uns also fragen: Kann Underground existieren in einer Welt, in der sich jeder Anarcho-Punk-Song, den ich mit Freund:innen via Youtube teile, viral verbreiten kann? Kann Underground existieren, wenn eine rege Diskussion auf Facebook über das obskure Genre Break-Core zu mehr Interaktionen, Aufmerksamkeit und somit Werbemöglichkeiten für den Social-Media-Konzern führt?

Mehr Underground denn je?

Ja, meint Kulturkritiker Stephen Graham. Dank Sozialen Medien und Online-Streaming-Plattformen könnten sich die Szenen global vernetzen und würden dadurch gestärkt. Die Underground-Idee existiert in Form von Independent-Labels und verbreitet sich über Tiktok oder Instagram beziehungsweise Musikplattformen wie SoundCloud oder Bandcamp.

Tatsächlich: Im Jahr 2022 wuchsen unabhängige Plattenfirmen schneller als die Major-Labels und machten 34,6 % des gesamten Marktanteils aus. Wie das Independent-Label XL mit der Pop-Titanin Adèle beweist, muss Indie nicht zwingend Underground heissen, aber die Zahlen zeigen dennoch, dass Platz für unabhängige Initiativen in der Musikwelt besteht.

Seit den letzten Jahren ist allerdings eine weitere Technologie auf dem Vormarsch, die wir hier berücksichtigen sollten: Die Algorithmen.

Underground und algorithmengetriebene Kultur

Algorithmen rechnen beim Streaming-Dienst Spotify die Wahrscheinlichkeit aus, wie sehr ein gehörter Song weiteren Hörer:innen gefallen könnte. Songs, die eine gewisse Beliebtheit erfahren, werden dadurch noch mehr Leuten ausgespielt. Algorithmen helfen aber auch Musikproduzent:innen und Labels, die Charakteristika erfolgreicher Songs zu identifizieren, um diese in neuen Songs zu reproduzieren. Wieso auf Feld eins zurück nach einem millionenfach gestreamten Hit-Song, wenn man mit seinen Zutaten einfach einen ähnlich klingenden und daher erfolgversprechenden nächsten Song zimmern kann? Das Kopieren von Hit-Rezepten ist weiss Gott keine neue Methode, der Unterschied besteht jedoch darin, wie schnell und tiefgreifend der algorithmusgetriebene Kreislauf abläuft und kaum noch Raum menschliche Kreativität und Lust auf Risiko lässt.

Die Folgen liegen auf der Hand: Imitation wird der dominante kulturelle Treiber. In seinem Essay «Can monoculture survive the algorithm?» zeigt sich  Kyle Chayka darüber besorgt, dass es in einer Algorithmus getriebenen Welt nicht genug Platz für Dinge gibt, die nicht für das Teilen, Skalieren und für ein grosses Publikum optimiert sind. 

Glaubt man Chayka, könnte also sein, dass es gar keine Rolle spielt, ob Szenen sich vernetzen können und Labels sich unabhängig finanzieren können. Wenn die Kultur abflacht, wenn die Lieder zu ähnlich werden, wenn der Mainstream alles dominiert, wo gäbe es dann noch Platz für den musikalischen Underground?

Danke fürs Lesen! Und danke fürs Gegenlesen, Jacqueline Büchi und David Hesse <3

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