Das traurige Paradies

“Either you like it or you hate it, some people just can’t cope with Sierra Leone”: Wir sind im Lacs Villa Guesthouse in Tengbeh-Town-Quartier in West-Freetown und sprechen mit der Besitzerin Andrea. Andrea ist Sierra Leonerin, hat Familie in England und kann daher das westafrikanische Land auch aus der westlichen Optik wahrnehmen. Ich habe ihr zuvor erzählt, dass ich 1993 das erste Mal hier hinkam, als meine Mutter für ihre Dissertation in Ethnologie forschte. Seither komme ich regelmässig als Urlauber, somit gehöre ich zur ersten Gruppe, die Andrea angesprochen hat, also zu denjenigen, denen dieses Land gefällt. Viele Gäste hat es nicht im Lacs Villa Guesthouse und unter ihnen sind wir die einzigen Touristen.

Wir treten heraus in die Hitze, im November ist die Regensaison in ihren letzten Zügen, dennoch ist es heiss. Wir laufen die löcherige Strasse hinunter, um auf der Kingharman-Road ein Sammeltaxi anzuhalten. Unser Ziel: die Geldwechselstube von Mister Barey im Zentrum von Freetown.

Der hohe Puls der Hauptstadt

Freetown ist eine quirlige Stadt im Norden der sierra-leonischen Halbinsel, die als Western Area bezeichnet wird. Die Strassen der Hauptstadt sind voll von Motorrad-Taxis, normalen Taxis und Popda-Podas. Bei den letzteren handelt es sich um umfunktionierte Minibusse, die meist bis zum letzten Platz mit Passagieren besetzt sind. Insbesondere in der Innenstadt herrscht Verkehrschaos und als wir um das Wahrzeichen der Stadt, dem Cotton Tree, fahren, rufen uns Bettler, Verkäufer und Geldwechsler zu: „Hey, my friend, come!“

Mit einer Einkaufstasche voll sierra-leonischen Leones (Le), die wir für unsere 600 Dollars erhielten, verlassen wir das Büro von Mister Barey und schauen bei Imad vorbei, einem libanesischen Bekannten, der im Zentrum eine Apotheke unterhält. Eine Menge Libanesen leben und arbeiten in Sierra Leone, viele unter ihnen sind im Handel tätig. Die libanesische Community lebt in der 3., wenn nicht sogar bald in der 4. Generation in Sierra Leone und heiratet dennoch fast ausschliesslich unter sich. Wie die meisten seiner Landsleute spricht Imad fliessend Krio, eine Englisch-basierte Kreolsprache, die im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel entstanden ist und, die in Sierra Leone weit verbreitet ist. Neben Krio sprechen die verschiedenen ethnische Gruppen ihre eigenen Sprachen.

Die Wirtschaft, ein Opfer der Ebola-Krise

Hinter dem Tresen der Apotheke tummelt sich eine Handvoll Mitarbeiter. Arbeitskräfte gibt es hier genug. Im Gegensatz zur westlichen Welt kostet Arbeit hier wenig: Das Angebot an Arbeitnehmern ist riesig, die Nachfrage bescheiden und Sozialleistung gibt es kaum. Das Land erholt sich immer noch von der Ebola-Krise, die das grosse Wirtschaftswachstum, das nach dem Krieg einsetzte, schlagartig gebremst hat. Zwar geht es seit Ende 2015 wieder etwas aufwärts, die Inflation hält aber an, die Produkte werden teurer. (Worldbank, 2016). Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, befindet sich Sierra Leone auf Platz 160 und somit hinter dem Sudan und Chad (Weltbank 2014). Trotz Investitionen in Minen, Landwirtschaft und Fischerei steht es schlecht um die Wirtschaft.

Sierra Leone scheint abgekoppelt von der globalen sichtbaren Wirtschaftsgemeinschaft: Marken wie Starbucks oder McDonald’s, die man auf dem ganzen Globus antrifft, sind hier nicht präsent. Dafür gibt es einige Firmen, die im grossen Stil Rohstoffe fördern und abtransportieren, so zum Beispiel die englische Firma African Minerals. „Rich country, poor people“, sagt mir ein sierra-leonischer Freund. Rohstoffe gibt es hier genug: Diamanten, Eisenerz, Gold, Graphit, Rutil und viele weitere Schätze befinden sich im Boden dieses reichen Landes, die Bevölkerung sieht nichts davon — Korruption sei dank.

Unser Smalltalk mit Imad wird unterbrochen: Direkt vor der Türe schreit ein Verwirrter die Passanten an und konfrontiert sie. Es bildet sich ein Kreis um ihn, einige erwidern sein Geschrei. Plötzlich tauchen Junge auf mit einem dicken Stab und fangen an, auf ihn einzuschlagen. Verständnis für psychisch Kranke gibt es hier nicht, oft werden diese von der tiefgläubigen, traditionellen Gesellschaft stigmatisiert und ausgeschlossen.

Die Parallelwelt innerhalb des hitzigen Chaos: Eine Bäckerei

Wir verlassen die schockierende Szene und finden Zuflucht in der klimatisierten Crown Bakery, die ebenfalls von einem Libanesen geführt wird. Wenn man der Hitze und der Hektik entfliehen möchte, ist die Bäckerei das Refugium; gleichzeitig sticht das soziale Gefälle ins Auge: schwarz sind hier nur die Mitarbeiterinnen und die Sicherheitsleute, die den Eingang bewachen.

Draussen stehen immer noch die gleichen Verkäufer wie vor Jahren. Sie erkennen mich und grüssen freundlich und bleiben herzlich, obwohl ich nichts kaufe. Eine lockere Unterhaltung ist in Sierra Leone viel wert. Hier findet das Leben auf der Strasse statt, zwischenmenschliche Kommunikation ist essentiell. Obwohl die Stadt eine halbe Million Bewohner zählt, gibt es nicht viel Anonymität. Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, man kümmert sich umeinander — auch über die erweiterte Familie hinaus. Das soziale Kapital ist das, was zählt, wenn man sonst keines hat.

Muslime feiern Weihnachten, Christen feiern ‘Id al Fitr

Die gläubige sierra-leonische Bevölkerung ist siebzig Prozent muslimisch und knapp dreissig Prozent christlich. Auf die beiden Religionen angesprochen, erklären viele Landsleute, hier ginge es in erster Linie ums Feiern: An den Feiertagen der Christen stossen also auch Muslime dazu und umgekehrt. Erstaunt war ich, als mir unser Fahrer Sununu, ein praktizierender Sunnit, erklärte, dass er zum Gebet auch schiitische oder sufistische Moscheen besuche: “Ich wähle mir eine aus, die gleich in der Nähe ist, wenn ich beten muss.” Frage ich jüngere Muslime nach ihrer Glaubensrichtung, schauen sie mich verdutzt an und gestehen, dass sie nicht wissen, ob sie nun Sunnit, Schiit oder Sufi sind.

Tatsächlich ist der Bürgerkrieg im Land nicht auf ethnische oder religiöse Gründe zurückzuführen, sondern auf die Misswirtschaft und Korruption der Regierung.

Die schönsten Strände von Westafrika

Sierra Leone, heisst es im Reiseführer, habe die schönsten Strände von Westafrika, viele davon liegen auf der Halbinsel von Freetown und sind dadurch gut erreichbar. Nach einer knappen Stunde Autofahrt haben wir die Hektik der Stadt bereits vergessen. Wir ziehen den weiten, einsamen Stränden entlang und blicken auf den weiten Atlantik hinaus. Die Wellen schlagen unerbittlich gegen den Sandstrand, während die Hügel im Landesinneren in dichtem Grün erscheinen und deren Spitzen im Hochnebel verschwinden.

Am frühen Abend nähert sich die Sonne im fernen Horizont in Form eines roten Feuerballs dem wilden Ozean, bis sie schliesslich darin verschwindet. Und während man weltverloren diesem meditativen und doch so gewaltigen Schauspiel durch einen vom Staub erzeugten Film, der alles etwas matter erscheinen lässt, zuschaut, und sich die Aussentemperatur kaum von der des Körpers unterscheidet, wird man eins mit dem Ort. Man fragt sich: Ist das hier das Paradies?

Amis mit Sierra-Leone-Tattoos

Weiter geht es der Halbinsel entlang in den Süden nach Kent. Aus dem Radio dröhnt „M.O.N.E.Y.“ des nigerianischen Sängers Timaya. Der Song ist gegenwärtig überall zu hören, der Refrain lautet: “When money no de” — wenn das Geld weg ist. Nigerianische Sänger werden in Sierra Leone viel gehört. Die Texte sind hier verständlich, das nigerianische Pidgin-Englisch und das sierra-leonische Krio ähneln sich. Die Inhalte wie Party, Politisches, Alltagskämpfe und Armut, finden verständlicherweise auch in Sierra Leone Anklang.

In Bureh Beach treffen sich die Expats, um sich übers Wochenende zu erholen. Ein Mittzwanziger mit Bart und breitem amerikanischen Akzent hat die sierra-leonische Flagge tätowiert auf seiner linken Wade. Eine Holländerin, die für eine NGO arbeitet, erzählt uns, wie sehr sie sich in das Land verliebt hat. Sie hat sogar ihren Freund in Rotterdam verlassen, weil es sie wieder nach Sierra Leone zog.

Das Land kann eine Faszination auf einen ausüben: Die Leute sind offen, hilfsbereit und freundlich, die Natur ist atemberaubend. Gleichzeitig ist die Misere präsent: Die Holländerin trainiert hier lokale Psychologen. Im ganzen Land gäbe es genau neunzehn Leute, die eine psychotherapeutische Arbeit ausüben. Pro Therapeut sind das 315'000 Bewohner dieses kriegs- und seuchentraumatisierten Landes.

Rau wie der Atlantik, unerbittlich wie die Hitze

Mitten im paradiesischen Umfeld wird man von der rauen Realität wieder eingeholt. Eine Realität, die bisweilen rau ist wie der Atlantik und unerbittlich wie die Hitze. Cathy, die mit ihrem Mann das Guesthouse Maroon View betreibt, in dem wir übernachten, sagt uns, dass im Dorf jährlich fünf Kinder, die unter fünf Jahren alt sind, stürben. Im vergangenen Januar seien gleich vier Babys gestorben. Man möchte diese Informationen am liebsten ausblenden. Aber egal, wie laut gelacht wird, wie schrill die fiedele Musik aus den Boxen dröhnt, der Kampf und das Mühsal sind da wie der Staub auf den Kleidern und der Schweiss auf der Stirn. Ein Mantel der Melancholie hängt in der feuchten Luft.

Tief in der Provinz

Wir sind bereits eine Woche im Land. Nach dem Strandbesuch beginnt eine Fahrt tief in die Provinz von Süd-Sierra-Leone, vorbei an Reisfeldern, sattgrünen Hügeln und Palmen. Die Strassen werden zunehmend schlechter, aber der Blick auf die Weiten des Landes ist atemberaubend. Ebenso fahren wir auf Schildern vorbei, auf denen zu lesen ist: “knock out HIV; Unprotected Sex can Destroy your Life” oder „Having Sex with Children is a Crime“.

„Weisser Mann, Weisser Mann!“

Alle zwanzig Minuten fährt unser Taxi durch Dörfer mit Lehmhütten. Hier fährt kaum ein Auto vorbei. Die Leute grüssen freundlich, die Kinder sind aus dem Häuschen, wenn sie Weisse sehen und schreien “Buyo, Buyo!” was auf Mende “Weisser Mann” heisst.

Der Kontrast zu den Städten ist frappant: Maschinen gibt es kaum, die Bewohner beackern das Feld und ernten von Hand. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie vier oder siebzig Jahre alt sind. Weder Altersruhe noch Schonzeit für Kinder gibt es hier, alle packen an.

Die Dörfer scheinen autark zu leben, auch Schulen sind vorhanden. Angepflanzt werden unter anderem Reis und Kakao-Bohnen. Letztere werden von Mittelsmännern gekauft, die die Ernte an die Schokoladenhersteller weiterverkaufen. Kostenpunkt: 1000 sierra-leonische Leones pro Pfund, das entspricht etwa 19 Rappen.

Wenn die Zeit stehenbleibt

Tiwai Island ist eine Insel, die einen Nationalpark bildet und sich im Südosten des Landes, direkt an der Grenze zu Liberia, befindet. Umgeben ist Tiwai Island vom Fluss Moa, der dem guineischen Bergland entspringt und durch Liberia und Sierra Leone fliesst.

Auf Tiwai Island ist man abgeschottet. In einer Lichtung inmitten des Naturschutzgebietes sind Zelte unter einem Dach aufgestellt, das sie vor dem heftigen Regen schützt. Handyempfang gibt es nicht, Internet nur via Satellit, dessen Gebrauch ist den Förstern vorbehalten. Bei einem Notfall wäre man aufgeschmissen, denken wir. Der einzige Gast neben uns ist ein junger Amerikaner aus Boston. Seth. Seth erfindet IT-Lösungen und patentiert sie. Er reist mit einem Motorrad durch Westafrika. Den Tag verbringen wir mit Lesen und Kaffee trinken. Wenn man so abgegrenzt ist, keinen Handyempfang und Internet hat, bleibt die Zeit stehen. Es ist ein wunderbar erholsames Gefühl.

Zurück in die Stadt

Auf einem Zwischenstopp während der Rückfahrt nach Freetown erfahren wir, dass Trump die US-Wahlen gewonnen hat. Die Kombination aus Schock, Hitze und der langen Fahrt schlägt auf die Stimmung. Der Stau, in den wir im Zuge des Abendverkehrs geraten, trägt nicht zur Erheiterung bei.

Wir kommen um zehn Uhr abends in der Siedlung Calaba Town an, die sich etwas ausserhalb im Osten der Stadt auf einem Hügel befindet. Hier wohnt Bobsin mit seiner Familie, ein Bekannter. Er ist der Bruder von Kadie, die ebenfalls hier wohnte, aber im September im Alter von 37 Jahren gestorben ist. Sie hatte Aids.

Nur an einem Ort brennt nachts das Licht

Im Haus gehen Leute ein und aus: Nachbarn, Bekannte, Freunde der Familie. Alleinsein gibt es hier nicht. Was es im Haus auch nicht gibt: Elektrizität und fliessendes Wasser. Wenn die Sonne abends um sieben Uhr untergegangen ist, ist es dunkel, abgesehen vom spärlichen Licht, dass die Kerzen spenden. Bei Tageslicht hat man einen wunderbaren Blick auf das Festland, das sich hinter der Bucht Tagrin Bay in den Norden erstreckt. Wenn es dunkel ist, sieht man nur die Konturen der Bucht, weil dort nichts beleuchtet ist.

Bobsin, ein Freund von ihm und ich sitzen auf der Veranda und trinken Bier von der lokalen Brauerei. Wir schauen auf die dunklen Konturen des Festlandes. Ein Ort, gleich am Festland-Ufer, leuchtet jedoch hell. “There is a lot of light” sage ich zu Bobsin. “This is Pepel”, antwortet er, “this is African Minerals Country”.

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